Predigt vom 02.01.2022

Predigt am 2. Jan.2022 über die Jahreslosung aus Joh. 6,37 in der Emmausgemeinde in Moskau
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“
Begrüßung und Eröffnung
Schwellenzeit zwischen gestern und morgen. Noch ist es frisch, das Neue Jahr und unverbraucht.
Wir schauen zurück und hoffen, dass das Schwierige, Enttäuschende jenseits der Jahresschwelle
bleibt, und wir schauen voraus, erwartungsvoll. Leben tun wir jetzt, in diesem Augenblick. Wir
wenden uns dem zu, der Ursprung und Mündung der Zeit ist, halten ins Licht, was uns belastet und
freut und Sagen: Herr, erbarme dich! Christus, erbarme dich! Herr, erbarm dich über uns!
Gedanken
Im Herbst 1946, anderthalb Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs, schreibt der 25-jährige Hamburger
Schriftsteller Wolfgang Borchert, schon von seiner Krankheit, an der er ein Jahr später sterben wird,
gezeichnet, in nur einer Woche ein Theaterstück, das als wichtigstes Drama der jungen deutschen
Nachkriegszeit das Lebensgefühl vieler Menschen ausdrückt. Er gibt dem Stück den Titel:
„Draußen vor der Tür.“ Es erzählt von der Heimkehr eines an Leib und Seele verletzten und tief
erschütterten Soldaten, Beckmann, der nicht mehr in sein altes Leben zurückfindet. Seine Frau hat
einen neuen Liebhaber, weil sie nicht mehr damit gerechnet hat, dass er heimkehrt, sein Oberst
arrangiert sich geschmeidig mit den neuen Verhältnissen und übernimmt keine Verantwortung für
das, was geschehen ist, eine Frau, in die er sich schüchtern verliebt, beendet nach kurzer Zeit die
Beziehung und seine alt gewordenen Eltern, tief verstrickt in die Ideologie des Nationalsozialismus,
suizidieren sich. Er ist buchstäblich und im wesentlichen Sinn allein. „Gibt denn keiner, keiner
Antwort?“ fragt er am Ende und bleibt „draußen vor der Tür.“
„Empfängnis“ ist ein Grundwort des Lebens. Wir sind existentiell darauf angewiesen, aufgenom-
men, hineingenommen zu werden in eine Gruppe von Menschen, die uns etwas bedeuten und für
die wir wichtig sind. Vor der Tür stehengelassen und abgewiesen zu werden, als Mensch, als Per-
son nicht willkommen zu sein, bedeutet, den Tod der Beziehungslosigkeit und Echolosigkeit zu
sterben. Nicht gesehen und gehört zu werden, meint, sich aufzulösen, sich nicht zu spüren und kein
Daseinsrecht zu haben.
Es muß darum Orte geben, an denen wir offene Türen finden, Wärmestuben des Lebens gegen die
Frostschäden an der Seele. Die Kirchen könnten solche Orte einer grundsätzlichen
Willkommenskultur sein. Sie haben es allerdings im Laufe ihrer Geschichte geschafft, einen
eigenen Code von Zugehörigkeit und Ausgrenzung zu entwickeln, der für sog. Aussenstehende
fremd und unverständlich ist und signalisiert: Du gehörst nicht zu uns.
Das Johannesevangelium entwirft ein anderes Bild: Der Nazarener sei zugänglich im eigentlichen
Sinn des Wortes gewesen, nahbar und ansprechbar, aber nicht kumpelhaft, zugewandt, aber nicht
vereinnahmend, einfach, aber nicht simpel, wissend, aber nicht überheblich. Man konnte zu ihm
kommen und es war egal, womit. Man mußte nicht die richtigen Fragen stellen und das richtige An-
liegen haben. Wahrscheinlich lag das daran, dass er selbst die Erfahrung des Abgewiesenseins in
seinem Leben immer wieder gemacht hat, und wußte, wie man sich fühlt, wenn man subtil
ausgegrenzt und stehen gelassen wird. „Kein Raum in der Herberge, jedenfalls für dich nicht!“
Kirche als Wärmestube für Menschen, die, und sei es nur für Momente, unterschlüpfen wollen, um
nicht zu erfrieren, das wäre eine Vision für das neue Jahr. Im Augenblick wachsen wieder die
Mauern, schließen sich die Grenzen, macht das Wort von der Identität als Ausdruck von „ich bin
nicht so wie du“ die Runde, werden Menschen abgewiesen und sich selbst überlassen Die
Erfahrung von O.Z.100 in Amsterdam: Du bist eingeladen. Und wenn du willst, lädst du den
Nächsten, der nach dir kommt, ein.
Wir wissen nicht, was das neue Jahr bringt. Eine Kirche mit offenen Türen, offenen Gedanken und
offenen Herzen wäre ein guter Beitrag für das Leben unter uns – gegen die Frostschäden an unserer
Seele.

Amen

 

B E R I C H T E  A U S  D E R  G E M E I N D E

Weihnachtsgottesdienst mit Krippenspiel

Krippenspiel in der Christvesper am Hl. Abend um 15.30 Uhr mit dem Titel: Auf dem Weg nach Bethlehem. Schüler:innen der DSM haben es im Weihnachtsgottesdienst lebendig und nachdenklich aufgeführt.
 

Spende für Kinder

Am 20. Dezember: Pastor Christian Braune übergibt 19.000 Rubel als Spende der Emmausgemeinde den Leiterinnen des heilpädagogischen Zentrums Moskau, das monatlich ca. 450 Kinder mit körperlichen und geistigen Einschränkungen und ihren Eltern medizinisch und therapeutisch hilft. Das Geld stammt aus zwei adventlichen Gottesdienstkollekten und dem Erlös aus dem Verkauf von Weihnachtsgebäck. Weil das HPZ in Wesentlichen von Spenden lebt, war die Freude groß.

 

 

Versöhnung über den Gräbern

 
Es herrschte eisiger Frost bei -20 Grad, als sich am Morgen des 9. Dezember russische und deutsche Vertreter verschiedener Suchorganisationen und Mitglieder politischer Einrichtungen 40 Kilometer ausserhalb von St. Petersburg unweit der Sinjawino-Höhen trafen. Während der Belagerung und Einkesselung der Stadt fanden dort erbitterte Kämpfe statt. Die Versammelten erlebten bewegende Momente. Übergeben wurden der russischen Seite die sterblichen Überreste eines jungen Rotarmisten, den die Suchmannschaft des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge wenige Wochen vorher gefunden hatte. Die russische Suchgruppe "Heiliger Georgi" wiederum übergab wenig später dem Volksbund die Gebeine von fünf gefallenen deutschen Wehrmachtssoldaten, die ebenfalls jüngst geborgen werden konnten, damit sie auf der nur wenige Fahrminuten vom russischen Ehrenmal entfernten deutschen Kriegsgräberstätte Sologubowka im kommenden Frühjahr beigesetzt werden können.
 
 
Der hohe Schnee, das Weiß auf den Tannen und auf den vielen Kreuzen und Grabsteinen, die Stille und der Blick in die endlos weite Landschaft unterstrichen die Besonderheit dieser beiden beieinander liegenden Orte, die heute Stätten der Versöhnung und Begegnung ehemals verfeindeter Menschen sind.
 
Auf einem Tisch im Schnee, sorgfältig aufgestellt, der rote Sarg mit den sterblichen Überresten des Unterleutnants Anton Georgewitsch Trifonenkow, geboren 1905 in Leningrad, gestorben vermutlich 1943 bei dem Versuch, die Blockde Leningrads zu durchbrechen. Identifiziert werden konnte er, weil er seine "Medaillonkapsel", auf der auf einem Pappröllchen sein Name, sein Rang und sein Geburtsdatum stand, bei sich trug. Nachforschungen ergaben, dass seine Frau evakuiert wurde und seitdem verschollen ist, das gemeinsame 2-jährige Kind während der Blockade verhungerte und sein Bruder bei einem Angriff der Wehrmacht ums Leben kam. Mit einem Mal bekam das Grauen des Krieges einen Namen und ein Gesicht und eine Geschichte, ein menschliches Gesicht und eine menschliche Geschichte. Der orthodoxe Priester Wjatscheslaw Charinow sang die Totenliturgie und segnete Anton. Wir standen Spalier, als der kleine Sarg in einer feierlichen Zeremonie zum Fahrzeug der Suchorganisation getragen wurde. Beigesetzt wird Anton Trifonenkow im Frühjahr auf dem Friedhof seines Heimatdorfes Myschkino.
 
 
Dann sind wir weitergefahren zum deutschen Soldatenfriedhof Sologubowka. Auf fünf schwarz verkleideten Tischen lagen die Särge mit den sterblichen Überresten der Gefallenen. Eine Erkennungsmarke, stark zerstört und nahezu unleserlich, wurde nur bei einem Toten gefunden. Die Namen der Gefallenen, ihr Herkommen, wovon sie geträumt und was sie gehofft haben, wovor sie sich fürchteten und nach wem sie in ihrer Todesangst gerufen haben, das alles ist unbekannt. Die stellvertretende Konsulin aus St. Petersburg, Ute Kaztsch-Egli, sagte: "Die Gräber der 54.000 deutschen gefallenen Soldaten, die hier in Sologubowka beerdigt sind und zu denen die fünf gefundenen Soldaten gebettet werden, erinnern uns daran, wie die jungen deutschen Soldaten von einer menschenverachtenden Ideologie missbraucht und schließlich ins Verderben gestürzt wurden. Nie wieder darf so etwas geschehen!"
 
 
Leichter Schneefall setzte ein. Ich habe bis zu diesem Augenblick nicht wirklich gewußt, was ich sagen sollte. Was kann man mit Worte sagen? Ich habe dann gesagt: " Ein wenig ist dieser Moment, in dem die Toten in unserer Mitte sind, wie ein Nachhausekommen. Ein wenig ist es so, dass wir ihnen etwas Wärme durch unsere Nähe und unsere Anteilnahme geben können. Auch wenn wir ihre Geschichte nicht kennen, vertrauen wir darauf, dass sie geborgen bleiben im schöpferischen Grund des Lebens. Und wer immer mit dem Gedanken spielt, mit Gewalt drohen zu wollen und Krieg als Mittel der Auseinandersetzung für möglich zu halten, soll vorher hierher kommen und auf das Gräberfeld schauen und lernen..." Dann haben wir alle, Russen und Deutsche, das Vaterunser gebetet und ich habe jeden einzelnen Toten gesegnet: " Gott schenke dir die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte dir!" Als ich das Kreuzzeichen auf jeden Sarg gezeichnet habe, war es im frischen Schnee für einen Augenblick. Beigesetzt werden die Gefallenen im Mai des kommenden Jahres.
 
 
Im Augenblick ist das russisch-deutsche Verhältnis belastet und es wächst die Mauer des Schweigens und der gegenseitigen Verdächtigungen. Es ist ein starkes und hoffnungsvolles Zeichen, dass es Menschen unterschiedlicher Prägung, Sprache und nationaler Zugehörigkeit gibt, die die Verbundenheit von Deutschen und Russen gerade in diesen Zeiten leben. Wir sind dankbar, dass wir dabei sein durften.
 
Christian Braune